„In den letzten Monaten habe ich mehrere Kilos abgenommen“, berichtet die übergewichtige Klientin, „doch seit kurzem überfallen mich wieder diese Essattacken, wo ich mich abends wahllos vollstopfe. Ich richte es immer so ein, dass mich mein Partner nicht dabei erwischt, wie ich den Kühlschrank plündere. Ich schäme mich zu sehr vor ihm. Danach fühle ich mich unwohl und habe Schuldgefühle. Bestimmt werde ich bald wieder so viel wiegen wie zuvor.“
Das Binge Eating Disorder ist eine neue Kategorie im DSM-V, dem Diagnosesystem der psychischen Störungen. Das Symptom gibt es allerdings schon länger. Essattacken sind etwas, das viele Menschen kennen. Zum Teil auch in einer milderen Form als beim Binge Eating Disorder, ohne dass es Krankheitswert hat, aber doch ein Muster ist, das bei den Betroffenen zu Übergewicht führen kann und auf der emotionalen Ebene zu Schuld-und Schamgefühlen. Der erlebte Kontrollverlust, das Schlingen und nicht mehr aufhören Können, sind für diese Menschen oft am Schwierigsten zu ertragen. Tagsüber sind sie kontrolliert, fleissig und können sich auch mit dem Essen disziplinieren. Bis ihnen dann abends „der Kragen platzt“ und Spannungsgefühle mit dem Essen von riesigen Mengen oft wahllos und ohne viel Genuss reguliert werden. Das Essverhalten ist unregelmässig – mal zu viel und dann wieder zu wenig. Teilweise folgen Phasen mit viel Verzicht (Mahlzeiten werden ausgelassen) auf solche, bei denen wahllos in sich hineingestopft wird. Die Gedanken kreisen tagsüber dauernd ums Essen. Das Körperselbstbild ist negativ, und dem entsprechend haben die meist übergewichtigen Betroffenen mit Selbstwertproblemen und depressiven Verstimmungen zu kämpfen.
Das Nachfragen bei der 42-jährigen kaufmännischen Angestellten ergibt, dass sie seit wenigen Wochen einen neuen Chef hat, der glaube alles besser zu wissen und ihr Vorschriften machen wolle in Bereichen, die bis anhin in ihren eignen Kompetenzen gelegen haben. Sie fühlt sich zu unrecht bevormundet, traut sich aber auch nicht, sich zu wehren, da sie um ihre Stelle fürchtet. Wir finden im Gespräch heraus, dass sich so Spannungsgefühe über den Tag aufbauen, sie tagsüber auch nur sehr wenig isst und abends dann die allzu hohe emotionale und essensbezogene Kontrolliertheit in eine Essattacke münden. In der Hypnosetherapie arbeiten wir nach dieser Analyse mit Ego States und gehen dem Ich-Zustand nach, der so unkontrollierten Hunger hat. Die Klientin erlebt diesen hungrigen State als einen Teil von sich, der zu kurz gekommen ist und sich nicht ernst genommen fühlt, der weder seine Gefühle, noch Gedanken äussern darf. Auf Nachfragen in der Trance, wie alt dieser Anteil sei, zeigt sich ein Mädchen, das am Tisch schweigen soll, dessen Meinung nicht gefragt ist und das vom Vater nicht ernst genommen wird. Dieses Mädchen wird von der ebenfalls übergewichtigen Mutter mit Süssigkeiten versorgt. In der Arbeit mit Ego States bekommt das Mädchen Zuspruch und Trost, und es darf sich frei äussern. Der internalisierte, überstrenge Vater bekommt neue Aufgaben. So ändert sich die innerpsychische Dynamik. Einige Wochen später gelingt es der Klientin, zusammen mit einer Arbeitskollegin mit dem Chef ein klärendes Gespräch zu führen, bei dem sie die Kompetenzen und Zuständigkeiten gemeinsam festlegen. Die Klientin ist stolz auf sich, dass sie sich getraut hat, ihre Meinung zu sagen, und die Anspannung hat merklich abgenommen, womit auch die Essattacken Vergangenheit sind. Rückblickend war für sie die Begegnung mit dem verstummten Mädchen ein Schlüsserlebnis auf dem Weg, wieder Kontrolle über ihr Essverhalten zu bekommen.
Das nächste Seminar EGO-State beginnt am 29.-30. Januar 2016 in Boldern bei Zürich
Charlotte Lattmann, 21.08.2015
Essstörungen; es macht einfach mit mir; habe keine Kontrolle, es überfällt mich; es ängstigt mich; ich bin ohnmächtig; kann mich nicht abgrenzen;